Genauso wie der E-Antrieb oder die Batterie wird künftig auch das Chassis eines Fahrzeugs von Software gesteuert. Denn damit ein Auto stabil und komfortabel fährt, müssen Lenkung, Bremsen, Dämpfungssysteme zentral orchestriert werden. Das sogenannte software-definierte Fahrzeug rückt näher.
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Konkret geht es bei der Regelung der Längs-, Quer- und Vertikaldynamik darum, sämtliche Komponenten eines Chassis über leistungsfähige Zentral- und Domänencontroller zu steuern. Statt 100 oder mehr Steuergeräte, die Autos bisher hatten, werden mit Hilfe einer zentralen Lösung kaum mehr als zehn benötigt. In diesem Geschäft ist der Zulieferer ZF nach eigenen Angaben Weltmarktführer. „Für uns ist die aktuelle Transformation der Automobilindustrie eindeutig mehr Chance denn Krise“, sagt der für Pkw-Fahrtechnik verantwortliche ZF-Vorstand Peter Holdmann.
ZF: Modularer Technologie-Ansatz
Chassis 2.0 nennt ZF diesen modularen Technologie-Ansatz, der dank intelligenter und vernetzter Aktuatoren sowie passender Software neue Fahrwerk-Funktionen ermöglicht. Jahrzehntelang hätten sich die Autohersteller hauptsächlich über ihre Motoren und Antriebe definiert. Doch bei Elektro-Autos seien die Dynamikunterschiede sehr viel geringer, sagt Holdmann. "In Zukunft wird nicht mehr der Antrieb, sondern das Chassis den Unterschied machen."
Im Mittelpunkt steht die Industrialisierung von Steer-by-Wire- und Brake-by-Wire-Systemen, die sich Software-gesteuert den Anforderungen und Wünschen unterschiedlichster Hersteller anpassen lassen. Theoretisch können dann in allen Autos die gleichen Komponenten verwendet werden und die Software regelt, ob ein Auto komfortabel oder sportlich federt oder wie die Bremsen ansprechen.
Den Herstellern eröffnen By-Wire-Systeme ganz neue Möglichkeiten. Eine elektronisch gesteuerte Lenkung benötigt beispielsweise keine Spurstangen. Dadurch lässt sich der Einschlagwinkel nahezu verdoppeln, sodass ein Auto fast auf Stelle wenden kann. Ideal für Stadtflitzer oder Lieferfahrzeuge.
Chassis 2.0: Aktive und semiaktive Dämpfer
Bisher war die Abstimmung eines Fahrzeugs eine Kompetenz der Hersteller. In Zukunft könnte also die Software eines Zulieferers darüber entscheiden, dass ein Porsche wie ein Porsche fährt. Mit der Folge, dass sich Entwicklungs- und Abstimmungszeiten verkürzen und die Hersteller in immer kürzeren Abständen neue Modelle auf den Markt bringen können. Eine Anforderung, die vor allem chinesische Marken haben.
Zum Produktspektrum von Chassis 2.0 gehören zudem aktive und semiaktive Dämpfer, die automatisch auf unterschiedliche Straßenverhältnisse oder Beladung des Fahrzeugs reagieren. "Dass sich ein Fahrwerk so verhält, wie es der Hersteller vorgibt, hängt von vielen tausenden Parametern ab", erklärt Chassis-Entwicklungsleiter Philippe Garnier. "Die Ingenieure müssen die unterschiedlichen Einstellungen von Bremse, Dämpfung, Lenkung in einer immensen Kleinarbeit durchkalkuliert werden." In Zukunft soll das Cubix Tuner übernehmen. Das von ZF entwickelte Programm soll den Ingenieuren helfen, das Fahrgefühl eines Autos sehr viel schneller zu programmieren.
Im Chassis 2.0 steckt außerdem ein intelligenter, direkt in die Kugelgelenke der Radaufhängung integrierter Beschleunigungssensor. Er misst die Bewegungen zwischen Fahrwerk und Fahrzeugaufbau. Die Technik ersetzt klassische Höhenstands-Sensoren und soll deutlich mehr und bessere Daten für elektronische Fahrwerksysteme liefern.
Der Sensor macht sich die veränderte Auslenkung im Kugelgelenk zunutze, wenn das Fahrzeug ein- oder ausfedert. Daraus lassen sich Daten zur Fahrzeughöhe, zur Straßenbeschaffenheit und zur Fahrdynamik gewinnen – in hoher Signalqualität und nahezu wetterunabhängig. Die Lösung spart dem Zulieferer zufolge zudem Bauraum, Gewicht und Montageaufwand.
ZF will neue Geschäftsmodelle erschließen
ZF sieht in dem System Potenzial für zusätzliche Fahrwerksfunktionen und neue digitale Geschäftsmodelle. So können etwa Dämpfung, Luftfederung oder Leuchtweitenregulierung präziser gesteuert werden. In Zukunft könnten die gewonnenen Daten auch zur Analyse des Straßenzustands genutzt werden. Wenn also beispielsweise mehrere Fahrzeuge ein tiefes Schlagloch registrieren, werden andere, ebenfalls per Cloud vernetzte Autos gewarnt. Außerdem könnte man die Daten gleich dem zuständigen Straßenbauamt weiterleiten, damit das Loch schnellstmöglich geflickt wird.
Vom chinesischen Hersteller Nio, in dessen neuer Oberklasse-Limousine ET9 die erste Steer-by-Wire-Lenkung steckt, über Cadillac bis zu Porsche und Mercedes: Die Industrie steht Schlange für die neuen Fahrwerktechnologie. "Unsere Auftragsbücher sind voll und die Entwicklung ausgelastet", freut sich ZF-Vorstand Holdmann. Ende des Jahrzehnts will der Zulieferer ein Drittel des Weltmarktes beliefern und dabei einen Umsatz von fünf Milliarden Euro pro Jahr erzielen.