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Allergie im Auto: Niesen als tödliche Gefahr

02.03.2020 06:00 Uhr
Mercedes-Allergie
Der Aufwand der Automobilhersteller beim Thema Allergiebekämpfung ist, das Ergebnis spürbar.
© Foto: Mercedes-Benz

Die bei Allergikern häufig heftige Reaktion auf Pollen, Staub und andere Stoffe kann im Straßenverkehr für lebensgefährliche Momente sorgen. Doch nicht nur die Klimaanlage hilft beim sicheren Autofahren.

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Laut der gemeinnützigen Europäischen Stiftung für Allergieforschung (ECARF) leiden 25 Millionen Menschen hierzulande unter Allergien. Bei 15,6 Prozent der Erwachsenen handelt es sich um Heuschnupfen, bei 8,7 Prozent um Asthma bronchiale. An dritter Stelle, mit 8,6 Prozent, stehen die Kontaktekzeme. Ganz gleich, was der Auslöser ist, bei einer Allergie reagiert das Immunsystem stets auf eigentlich harmlose Substanzen. Die Folgen: chronische oder wiederkehrende Entzündungen an den Atemwegen, der Haut oder dem Darm. Akute allergische Reaktionen können unterschiedlich schwere Beschwerden hervorrufen. Unter anderem auch deshalb sind Automobilhersteller sehr aktiv, Betroffene vor belastenden Einflüssen zu schützen.

Sieben Prozent der Unfälle

Bei einer an der Charité in Berlin durchgeführten Studie konnte Torsten Zuberbier, Leiter der Allergieforschung der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie, zusammen mit seinem Kollegen Martin Church ermitteln, wie sehr allein Heuschnupfen die Teilnahme am Verkehrsgeschehen beeinflusst. 75 Prozent der 500 Befragten gaben an, dass ihre allergischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, juckende Haut und Augen oder Mattigkeit sie vom Verkehr ablenken würden. 13 Prozent berichteten von so starken Beschwerden, dass sie nicht Autofahren konnten und sieben Prozent stellten einen Zusammenhang zwischen ihrer Allergie und einem von ihnen verursachten Unfall oder einer riskanten Situation, die beinahe zu einem Unfall geführt hätte, her. Laut Zuberbier gehen mindestens sieben Prozent aller Unfälle auf eine Allergie zurück: "Auch wenn es nur Bruchteile von Sekunden sind, so führen die reflexartig geschlossenen Augen beim Niesen doch für etliche Meter zu einem Blindflug." Bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h legt man in dieser Zeit etwa 13 Meter zurück.

Grund genug für Autohersteller, Allergikern ein möglichst reines Umfeld im Passagierabteil zu bieten. Gerade Außendienstlern bleibt berufsbedingt gar nichts anderes übrig, als viel Zeit in ihrem Fahrzeug zu verbringen. Zudem machen immer mehr Staus das Auto zum zweiten Wohnzimmer. Laut ADAC lag 2019 die Gesamtdauer der gemeldeten Störungen bei 521.000 Stunden. Stunden, die Zuberbier sehr ambivalent sieht:"Der relativ enge Innenraum eines Autos kann durch die Vielzahl an Materialien im Pkw sowohl ein Problemfeld als auch ein schützender Raum sein, weil die Innenluft unter Umständen sogar besser ist als draußen." In diesem Zusammenhang hat er ein Lob für die Industrie parat:"Die Automobilhersteller gehen mittlerweile immer bewusster mit dem Thema Allergie um."

Allergie getesteter Innenraum

Sehr medienwirksam hatte das vor einigen Jahren Ford getan. Der Kölner Autobauer war von der TÜV Rheinland Group mit dem Prüfsiegel "Allergie getesteter Innenraum" ausgezeichnet worden. Mehr als 100 Materialien wurden dafür auf etwaige Schadstoffe untersucht, alle Komponenten, mit denen die Haut in unmittelbaren und längeren Kontakt kommen könnte, dermatologisch getestet. "Bei der Materialauswahl haben wir ausschließlich Produkte verwendet, die Toxproof oder Oekotex 100 zertifiziert sind", berichtet Ford-Sprecher Isfried Hennen, und, dass der besondere Augenmerk den Themen "Kontakt-Allergien" wie Nickel oder Farbstoffe sowie "Pollen" galt. Aufgrund ihrer sehr kleinen Partikelgröße (unter 10 Mü/µm) stellen sie besonders hohe Anforderungen an die Filterkapazität. Nickel, Chrom, Kobalt und Konservierungsstoffe wie Formaldehyd lassen sich unter anderem in Sitzen, Sitzgurten, Lenkradbezügen, Armaturen oder Schalthebeln finden. Allerdings hat der Kölner Autobauer die Kooperation mit dem TÜV Rheinland Ende 2013 gekündigt. Seitdem gibt es keine Ford-Baureihen mehr, die das offizielle Siegel "Allergie getesteter Innenraum" haben. Auf die Qualität der Stoffe werde weiterhin geachtet, betont Hennen.

Ganz anders sieht die Welt bei Mercedes aus. "Nach meiner Einschätzung ist Mercedes-Benz derzeit Vorreiter für die Allergenvermeidung bei Fahrzeugen", so Zuberbier in seiner Rolle als Vorsitzender des ECARF. Alle Baureihen erfüllen die sehr strengen und von einem Beirat aus 15 international führenden Wissenschaftlern und Technikern festgelegten Kriterien eines von der Stiftung definierten Siegels für allergikerfreundliche Autoinnenräume. Dahinter steht der Gedanke des Stuttgarter Autobauers, dass Sicherheit und Wohlbefinden in einer engen Wechselbeziehung zueinander stehen. Wer sich gut fühle, fahre sicherer. Und wer sich sicher fühle, dem gehe es auch insgesamt besser. Der Charité-Experte weiß, dass es für die Hersteller nicht leicht ist, die Voraussetzungen für das Siegel zu erfüllen. Zuberbier vergleicht die Aufgabe mit dem Risiko beim Kochen."Eine Prise von einem einzigen Gewürz kann am Ende ein bis dahin noch so köstliches Essen verderben." Die größte Tücke liege an der Reaktion der vielfältigen Komponenten eines Fahrzeugs miteinander. Vor allem die diversen Temperatureinflüsse, denen es ausgesetzt sein kann, stellen dabei eine Herausforderung dar.

Mercedes beginnt bis zu sechs Jahre vor Produktionsstart damit, in einer eigens eingerichteten Prüfkammer des Technology Center in Sindelfingen die Innenraumemissionen zu überprüfen. In einem speziellen Raum durchläuft dann ein Fahrzeug definierte Temperaturprofile und wird dabei auf mehrere 100 Substanzen getestet. In mehreren Zyklen werden Luftproben aus dem Fahrzeuginnenraum entnommen und in Speziallabors analysiert. Außer der Gesamtemission kann auch der Schadstoffausstoß einzelner organischer Verbindungen gemessen werden. Bei 90-minütigen Probefahrten mit Prototypen testen hochgradige Allergiker zudem unter ärztlicher Betreuung die Zusammensetzung der Materialien in der Realität. Vor und nach den Tests werden unter anderem Lungenfunktionswerte, ausatembares Stickoxid, der nasale Luftfluss, Blutdruck, Herzfrequenz und Reizungen der Augenbindehaut erfasst. "Den schwerstgradigen Asthmatikern ging es bei diesen Tests noch immer gut", so Zuberbier. Bei den geforderten Test auf Kontaktallergene haben die verwendeten Materialien bei Daimler keine Reaktionen bei den Probanden ausgelöst. An 20 Testeilnehmenden mit einer schwergradigen Nickel-Chromallergie werden dafür über 48 Stunden die Reaktionen diverser Werkstoffe auf der Haut beobachtet.

Großer Aufwand

Für den Beweis, dass die Aktivkohle-Feinstaubfilter auch besonders kleine allergene Partikel wie fragmentierte Birkenpollen, Katzenhaarallergene oder Schimmelpilze - sie sind bis zu 1 µm klein, also 50- bis 100-mal dünner als ein menschliches Haar - herausfiltert, wurde auf dem Gelände der Charité eine mobile Versuchsanlage aufgebaut. In zwei miteinander verbunden, aber mit einem Teilaufbau der S-Klasse-Klimaautomatik getrennten Containern wurden Probanden mit unterschiedlichsten Stoffen "beduftet" und die Reaktionen beobachtet - von denen es keine gab.

Doch auch wenn nicht alle einen derartigen Aufwand betreiben, so ist Mercedes natürlich nicht der einzige Autobauer, der die Gesundheit seiner Kunden im Blick hat. "Bei Volvo ist es eine Selbstverständlichkeit, dass von den im Fahrzeug verwendeten Materialien keine Unannehmlichkeiten oder gar Gesundheitsgefährdungen ausgehen", so Sprecher Michael Schweitzer. Abgesehen vom Verzicht auf allergieauslösende Kunststoff- und Textilrohstoffe erfolgt auch das Gerbverfahren fürs Leder nach strengen Richtlinien. Volvo arbeitet hier nur mit Zulieferern zusammen, die strenge Vorschriften zur artgerechten Tierhaltung einhalten. Das verwendete Leder ist ein Nebenprodukt, das bei der Fleisch- und Milchproduktion entsteht. Türgriffe, Zündschlüssel, Schalthebel und Lenkräder bestehen aus Materialien, bei denen die Auslösung von Kontaktallergien ausgeschlossen werden kann. Da in den ersten vier Jahren Materialien dennoch ausdünsten sorgt das so genannte Clean Zone-Luftreinigungssystem außer einer effektiven Filterung der Außenluft dafür, dass bei jeder Türöffnung ein Sog möglicherweise belastende Stoffe nach draußen zieht.

Stellvertretend für weitere Autobauer sei an dieser Stelle Renault genannt. Gesunde Substanzen gehören nach eigener Aussage zu den Eckpfeilern der Umwelt- und Gesundheitspolitik. Um die Emissionen der Hauptkategorien flüchtiger organischer Verbindungen zu kontrollieren, gelten seit 2009 bei allen relevanten Lieferanten für Materialien in Kabine und Kofferraum, deren Gesamtgewicht mehr als 100 Gramm beträgt, sehr strenge Auflagen. Der französische Autobauer berücksichtigt für den Prozess der Materialauswahl den Standard der "Global Automotive Declarable Substance List", mit der in der Automobilbranche der Umgang mit chemischen Reinstoffen reguliert wird. Bei besonders besorgniserregenden Stoffen kommt eine EU-Chemikalienverordnung (Reach-Prozess) zum Tragen. Laut Renault wird so ein freiwilliger Ansatz verfolgt, der Stoffe bis zu fünf Jahre vor dem Regulierungsprozess verbietet.

Doch ganz gleich wie gut die Materialien sind, eines bleibt unbestritten: Pollenfilter und Verdampfer müssen regelmäßig gewartet und ausgetauscht werden. Bei Opel wird in den Werkstätten dafür eigens eine Reinigung mit einem System namens "airco well" angeboten. Laut Opel dem einzigen im Markt, welches vom Deutschen Allergie- und Asthmabund als wirksam, gesundheitsverträglich und für Allergiker geeignet bewertet wird.

Bleibt die Frage, was Fahrer selbst für ihr Wohlbefinden tun können. Für Allergologe Torsten Zuberbier ist die Antwort ganz einfach: "Eine sichere Medikation ist oberstes Gebot. Es gibt viele Medikamente, die müde machen oder die Aufmerksamkeit verringern. Diese dürfen beim Autofahren selbstverständlich nicht eingenommen werden. Bezüglich der Antiallergika bestehe bei den Nasensprays mit Kortison oder Asthmasprays in dieser Hinsicht keine Gefahr. Bei den Antihistaminika muss jedoch unbedingt darauf geachtet werden, dass moderne, nicht müde machende Mittel eingenommen werden, zum Beispiel Loratadin oder Fexofenadin." Beide Substanzen sind auch für Piloten zugelassen - deren Grad an Leistungsfähigkeit dürfte selbst Vielfahrern ausreichen.

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