Werktags ellenlange Staus auf den Einfallstraßen, nicht enden wollende Baustellen, Sanierungsstau an Brücken und anderen Bauwerken - und dazu seit etlichen Jahren eine stetig wachsende Einwohnerzahl: Darmstadt geht es wie vielen anderen Städten auch: Für die täglichen zigtausend Ein- und Auspendler der 160.000-Einwohner-Stadt gibt es vor allem zu Stoßzeiten kaum noch ein Durchkommen, der Individualverkehr ist längst an seine Grenzen gekommen, kann den Mobilitätsbedürfnissen seiner Einwohner daher oft nicht gerecht werden.
Mit neuen Projekten und mutigen Ideen versucht die südhessische "Wissenschaftsstadt" im Rhein-Main-Gebiet nun, neue Wege nicht nur zu bauen, sondern auch wirklich zu gehen.
Keine Vorfahrt für Autos
Ein Wohnviertel (fast) ohne Auto(-verkehr) zu schaffen - das war und ist die Vision der derzeit im Süden der Stadt entstehenden Lincoln-Siedlung. Das etwa 25 Hektar große Areal wurde jahrzehntelang von den US-Streitkräften als Wohnsiedlung genutzt. Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2008 verwaiste der Platz - erst 2014 wurde mit der Umgestaltung, der Konversion begonnen. Zurzeit leben bereits einige hundert Menschen in diesem Quartier, bis 2020 soll nun Wohnraum für 5.000 Menschen entstehen. Weniger Privat-Pkw, mehr alternative Mobilität und dadurch mehr Lebens- und Aufenthaltsqualität: Das ist das Konzept. Auto-Fetischisten dürfte das Konzept Schweißperlen auf die Stirn treiben: Der eigene Parkplatz vor dem Haus ist weitgehend passé: Stattdessen ist der Plan, das Auto in der Regel in der zentralen Sammelgarage zu parken und trotzdem nur maximal 300 Meter bis zur eigenen Wohnung zu Fuß laufen zu müssen. Der Seitenstreifen der Straße, der gewöhnlich zum Parken von Fahrzeugen genutzt wird, ist mit Balustrade gesperrt; so soll verhindert werden, dass zu viele Autos die Straßen "zuparken". Die vielen Stellplätze im Parkhaus und die wenigen vor den Wohnungen werden nach einem Punktesystem vergeben, Personen mit eingeschränkter Mobilität und Elektroauto-Fahrer werden bevorzugt. Trotzdem gilt: maximal ein Auto pro Wohneinheit.
Immer mobil und oft alternativ
Schaut man sich auf dem Gelände um, fallen neben der vielen Baugruben, Kräne und Bagger vor allem die vielen Mobilitäts-Hot-Spots auf: An zwei Stellen in der Siedlung bietet die Deutsche-Bahn-Tochter
Call-a-bike-Fahrräder zum Leihen an. "Ich nutze die Fahrräder öfter mal", sagt ein Anwohner, "ist einfach praktisch, um in die Stadtmitte zu kommen."
Wer auf elektrisch unterstüzte Cargo-Bikes abfährt, wird beim "Heiner-Bike" fündig. Die Elektro-Cargobikes dürfen sogar - es handelt sich dabei um ein städtisch gefördertes Projekt - kostenlos genutzt werden, so wie der "Lincoln Lader". Damit lässt es sich bequem auf dem beeindruckend breit ausgebauten Radweg in Richtung Stadtmitte oder des südlichen Stadtteils Eberstadt radeln. Auch eine neu geschaffene Straßenbahnhaltestelle steht den Bewohnern seit kurzem parat.
Wer vier statt zwei oder drei Räder bevorzugt, kann auch über den Car-Sharing-Anbieter book-n-drive ein Fahrzeug mieten. Das Ganze gibt's auch elektrisch - schließlich ist die Lincoln-Siedlung ein "Modellquartier für Elektromobilität": Das "lincoln mobil" des Anbieters "mobileeee" ist ein elektrisch betriebener Renault Zoe, den die Mieter sogar für vier Stunden in der Woche kostenlos nutzen können. Den Strom dazu bietet ein lokaler Energieversorger an mehreren Ladesäulen im Quartier an - natürlich mit 100-prozentigem Ökostrom, denn alles andere ist kontraproduktiv.
Für dieses und alle anderen Fahrzeuge gilt in der gesamten Siedlung übrigens Tempo 30. Diese Fülle an Angeboten muss man natürlich auch optimal zu nutzen lernen. Deshalb hilft eine Mobilitätszentrale auf dem Gelände bei Unklarheiten und der Wahl des richtigen Verkehrsmittels.
Ausgezeichnetes Konzept
Für dieses Konzept wurde der Stadt Darmstadt 2019 der "Deutsche Mobilitätspreis" der Initiative "Deutschland - Land der Ideen" und des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) verliehen. "Mobilitätskonzepte wie das der Lincoln-Siedlung machen die Menschen vom eigenen Auto unabhängig und beschränken den Kfz-Verkehr auf ein notwendiges Minimum", erläutert Astrid Samaan, Abteilungsleiterin Mobilität und öffentlicher Raum im Stadtplanungsamt Darmstadt, die Idee. "Es geht nicht um Wohnen ohne Auto, sondern um wenig Auto im Wohnumfeld. Es geht um die Wahlfreiheit, mit eigenem oder ohne eigenes Auto zu leben."
In Zukunft wollen die "Digitalstadt Darmstadt" und der "Bauverein AG" diese Angebote noch weiter bündeln und vor allem auch vereinfachen. Mit der Lincoln-Card sollen die Bewohner dann noch unkomplizierter und damit bequemer ihre Mobilitätsbedürfnisse befriedigen können.
Staufreie Fahrradautobahn
Und vielleicht sind die Autostaus in Bälde ohnehin nicht mehr ganz so zäh. Zwischen Darmstadt und Frankfurt entsteht zurzeit Hessens erste Fahrradautobahn. Die Großstädte soll bis 2022 ein gut 30 Kilometer langer Radfahrer-optimierter Schnellweg (vier Meter breit, asphaltiert und beleuchtet) verbinden und damit sogar das Pendeln mit E-Bikes ermöglichen.