Fakten zum Anscheinsbeweis
Der sogenannte Anscheinsbeweis trifft uns regelmäßig im Verkehrsunfallrecht und ist für viele ein Buch mit sieben Siegeln. Gerne wird er auch Beweis des ersten Anscheins oder von Anwälten, Richtern und Versicherern lateinisch Prima-facie-Beweis genannt. Was hat es mit diesem Anscheinsbeweis auf sich?
Grundsätzlich ist der Anscheinsbeweis eine Methode der mittelbaren Beweisführung. Allerdings wird es oft als undurchschaubares Mysterium gesehen, da es keine gesetzliche Regelung für ihn gibt. Stattdessen erlaubt der Beweis des ersten Anscheines, dass man aus Erfahrungsgrundsätzen Schlüsse zieht. Dies bedeutet, dass bei typischen Geschehen oder Ereignissen – wie wir sie im Straßenverkehr haben – die Erfahrung auf bestimmte Abläufe schließen lässt. Dies gilt sowohl für den Ursachenzusammenhang als auch hinsichtlich des Verschuldens. Gerade bei der Haftungsabwägung bei Verkehrsunfällen zwischen zwei Kraftfahrzeugen spielt der Anscheinsbeweis eine erhebliche Rolle.
Widerlegbar?
Der Anscheinsbeweis kann erschüttert werden, indem Tatsachen vorgetragen und bewiesen werden, die die Möglichkeit eines anderen, atypischen Geschehensablaufs begründen. Ein Beweis des Gegenteils wird überwiegend nicht verlangt, lediglich die Möglichkeit einer anderen Beurteilung. Hier geht jedoch die Rechtsprechung auseinander: Teilweise verlangen Gerichte den vollen Gegenbeweis, teilweise reichen erwiesene Tatsachen aus, die einen atypischen Geschehensablauf möglich machen.
Praxisbeispiele
Ein Auszug von häufigen Unfallkonstellationen soll verdeutlichen, wann der Anscheinsbeweis gilt:
Anfahren vom Fahrbahnrand: Der Anscheinsbeweis spricht gegen den Anfahrenden.
Auffahren: Der Anscheinsbeweis spricht gegen den Auffahrenden.
Ausfahren aus einer Grundstücksausfahrt: Der Anscheinsbeweis spricht gegen den ein Grundstück verlassenden Fahrzeugführer.
Fahrstreifenwechsel: Der Anscheinsbeweis spricht gegen den Spurwechselnden.
Auffahren nach Fahrstreifenwechsel: Bei einem Auffahrunfall in Verbindung mit einem zeitlich und örtlich zusammenhängenden Fahrstreifenwechsel tritt der Anscheinsbeweis des Auffahrens zurück; der Anscheinsbeweis spricht dann gegen den Spurwechsler.
Rückwärtsfahren/Zurücksetzen: Der Anscheinsbeweis spricht gegen den Rückwärtsfahrenden
Türöffner/Vorbeifahren: Der Anscheinsbeweis spricht gegen den Türöffner. Aber: oftmals Haftungsquote wegen zu geringem Sicherheitsabstand des Vorbeifahrenden
Sie sollten sich daher immer folgende zwei Fragen stellen:
1. Liegt überhaupt eine typische Unfallsituation vor, sodass der Anscheinsbeweis zum Tragen kommt?
2. Gibt es Anhaltspunkte für einen atypischen Geschehensablauf, der den Anscheinsbeweis widerlegen kann?
Inka Pichler
- Ausgabe 9/2009 Seite 64 (181.5 KB, PDF)