_ Mit dem Aufkommen des Abgasskandals wurde sehr schnell auch in Deutschland der Ruf nach einem umfassenden Verbraucherschutz laut. Aber ebenso schnell wurden die unterschiedlichen (berechtigten) Interessenlagen der Wirtschaft und der vor ihr mitunter zu schützenden Verbraucher deutlich. Es kann nicht sein, dass - wie im Fall VW - viele tausend Geschädigte jeweils einzeln, mit hohem Kostenrisiko, gegen einen Wirtschaftsriesen klagen müssen. Andererseits muss auch die Wirtschaft davor geschützt werden, in allen denkbaren Fallkonstellationen mit Musterklagen überzogen zu werden. Die Lösung soll die Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage bringen.
Ab 1.11.2018
Der Bundestag hat das Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage beschlossen (BGBl. v. 17. Juli 2018, Teil 1, Seite 1.151). Das Gesetz tritt am 1. November 2018 in Kraft. Damit ist in Fällen der Abgasmanipulation der Weg frei für eine Musterfeststellungsklage von Verbraucherverbänden gegen betroffene Fahrzeughersteller. Mit dieser Feststellungsklage bekommen bestimmte Verbraucherschutzverbände eine neue Klagemöglichkeit, quasi stellvertretend, gegen Unternehmer. In Fällen mit zugleich vielen Betroffenen kann zukünftig in einem einzigen Gerichtsverfahren rechtsverbindlich geklärt werden, ob die Voraussetzungen für die geltend gemachten Rechtsansprüche - etwa Schadensersatzansprüche - bestehen.
Fristwahrend
Vorbehaltlich zahlreicher Hürden könnten nun für Streitigkeiten aus dem VW-Abgasskandal (noch) rechtzeitig vor dem Eintritt der Verjährung (meistens Ende 2018) eine Reihe von Grundsatzfragen allgemeinverbindlich geklärt werden, die bisher in vielen Einzelprozessen taktisch von VW offengehalten wurden. Die wichtige Frage etwa, ob in der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtungen eine vorsätzlich sittenwidrige Schädigung des Käufers zu sehen ist, könnte nun "allgemein" geklärt werden. Die Käufer müssten den daraus entstandenen Schaden ersetzt bekommen. Müssten sie wirklich? Und falls ja, gilt dies für alle Käufer? Ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht. Grundsätzlich sind folgende Punkte festzuhalten:
1.) Die Verjährung der Ansprüche wird gehemmt. Dies bedeutet, dass für die Dauer der Instanzen des Musterfeststellungsverfahrens dem Verbraucher nicht mehr die Zeit davonläuft.
2.) Verbraucher, die sich im Klageregister eingetragen haben, können die im Urteil zur Musterfeststellungsklage getroffenen Feststellungen für ihren eigenen Prozess verwenden, denn die Feststellungen im Urteil entfalten Bindungswirkung für die Beteiligten. Mühsame, zeitaufwändige und kostspielige Feststellungen im Einzelprozess entfallen somit. Dies sagt aber noch nichts darüber aus, ob der Verbraucher auch tatsächlich seine Ansprüche umsetzen kann.
Wer klagen kann
Eine solche Musterfeststellungsklage kann nur von "qualifizierten Einrichtungen" geführt werden. Dies sind Verbände, die in die Liste nach § 4 des Unterlassungsklagengesetzes oder in dem Verzeichnis der Europäischen Kommission nach Artikel 4 der Richtlinie über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen eingetragen sind. Diese Verbände müssen folgende Voraussetzungen erfüllen:
- als Mitglieder mindestens zehn Verbände, die im gleichen Aufgabenbereich tätig sind, oder mindestens 350 natürliche Personen haben
- mindestens vier Jahre in den oben genannten Listen eingetragen sein
- in Erfüllung ihrer satzungsmäßigen Aufgaben Verbraucherinteressen weitgehend durch nicht gewerbsmäßige aufklärende oder beratende Tätigkeiten wahrnehmen
- Musterfeststellungsklagen nicht zum Zwecke der Gewinnerzielung erheben und
- nicht mehr als fünf Prozent ihrer finanziellen Mittel durch Zuwendungen von Unternehmen beziehen.
Wenn diese Voraussetzungen vorliegen, muss der klagende Verband glaubhaft machen, dass mindestens zehn Verbraucher von demselben Fall betroffen sind und es müssen sich zwei Monate nach öffentlicher Bekanntmachung der erhobenen Musterfeststellungsklage mindestens 50 Verbraucher im Klageregister wirksam angemeldet haben.
Klageregister
Zur Information der Bevölkerung wird beim Bundesamt für Justiz ein Klageregister geführt, das alle öffentlichen Bekanntmachungen rund um die Musterfeststellungsklagen enthält (Anmeldevoraussetzungen, Fortgang des Verfahrens, zu beachtende Fristen etc.). Zur näheren Ausgestaltung dieses Klageregisters wird das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eine Rechtsverordnung erlassen, die nähere Bestimmungen über Inhalt, Aufbau und Führung des Registers enthält.
Jedenfalls muss die Bekanntmachung der Musterfeststellungsklage folgende Angaben enthalten:
- Bezeichnung der Parteien
- Bezeichnung des Gerichts und des Aktenzeichens der Musterfeststellungsklage
- die Feststellungsziele
- eine kurze Darlegung des Sachverhaltes
- Zeitpunkt der Bekanntmachung im Klageregister
- Befugnisse der Verbraucher, Ansprüche oder Rechtsverhältnisse, die von den Feststellungszielen abhängen, Form, Frist und Wirkung der Anmeldung p - Wirkung des Vergleichs p Damit stellt sich die Frage: Was kann oder muss jetzt zum Beispiel ein vom VW-Skandal betroffener Verbraucher tun? Eine Anmeldung von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen ist erst möglich, wenn das zuvor erwähnte Klageregister beim Bundesamt für Justiz eingerichtet ist. Ist dies geschehen, können Verbraucher bis zum Ablauf des Tages vor Beginn des ersten Termins Ansprüche und Rechtsverhältnisse, die von den Feststellungszielen abhängen, zur Eintragung ins Klageregister anmelden. Die Anmeldung ist nur wirksam, wenn sie form- und fristgerecht erfolgt und folgende Angaben enthält:
- Name und Anschrift des Verbrauchers
- Bezeichnung des Gerichts und Aktenzeichen der Musterfeststellungsklage
- Gegenstand und Grund des Anspruchs
- Versicherung der Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben
Zuständig für die Verhandlung und Entscheidung von Musterfeststellungsklagen im ersten Rechtszug beziehungsweise in der ersten Instanz sind die jeweiligen Oberlandesgerichte. Das rechtskräftige Musterfeststellungsurteil bindet das zur Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen einem angemeldeten Verbraucher und dem Beklagten angerufene Gericht. Hat ein Verbraucher vor der Bekanntmachung zur Musterfeststellungsklage bereits eine Klage gegen den Beklagten erhoben, die den gleichen Lebenssachverhalt betrifft, setzt das Gericht das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Musterfeststellungsklage aus.
Unklarheiten
Das vorstehend beschrieben Verfahren ist für den juristischen Laien sehr kompliziert und stößt auch unter Experten durchaus auf Kritik; nicht zuletzt deshalb, weil im Zweifel nach einem für die Verbraucher positiven Musterfeststellungsurteil noch längst nicht die eigenen Schadensersatzansprüche des Einzelnen sicher sind.
Das Verfahren ist so ausgestattet, dass zuerst der zum Zuge kommende Verbraucherverein im Rahmen einer Feststellungsklage vor Gericht Schadensersatzansprüche und ihre Grundlagen hierzu feststellen lassen muss. Danach müssen die einzelnen geschädigten Verbraucher in einem weiteren Schritt auf eigene Rechnung ihren individualisierten Schadensersatzanspruch, wenn Hersteller oder Händler das Musterfeststellungsurteil nicht umsetzen, gerichtlich geltend machen.
Der Verbraucherverein sucht sich einen Rechtsanwalt, der für alle Geschädigten gemäß Klageliste die Schadensersatzansprüche geltend machen soll. Hierin liegt ein gewisses Risiko, was den Erfolg der Ansprüche für die Verbraucher und die Haftung des Rechtsanwaltes anbelangt. Unterlaufen dem Rechtsanwalt dabei Fehler, so verlieren die Geschädigten den Prozess in ihrer Gesamtheit. Ein negatives Feststellungsurteil bedeutet dann für alle, dass sie ihre Schadensersatzansprüche verloren haben. Sie können dann auch nicht mehr als Einzelkläger diese Schadensersatzansprüche geltend machen. Insofern sind sie an den negativen Ausgang des Prozesses gebunden. Dies ist in der Rechtsordnung nichts Neues, nur man muss sich des Risikos bewusst sein; auf Seiten der beteiligten Verbraucher wie auch auf Seiten des jeweiligen Verbandes und des beauftragten Rechtsanwaltes.
Wer urteilt?
Die bisherige Rechtsprechung im Bereich Diesel-Abgasskandal ist sehr unterschiedlich und voneinander abweichend. Es gilt daher für die Musterfeststellungsklage das Gleiche wie in jedem anderen Prozess auch. Gelangt die Klage des Verbraucherverbandes zu Richtern, die eher verbraucherfeindlich eingestellt sind, geht der Prozess eventuell für alle verloren. Ähnlich wie bereits heute beurteilen verschiedene Richter selbstverständlich auch die Rechtslage unterschiedlich; bis letztlich die höchste Instanz einen Rechtsstreit beendet. Bei einer Musterfeststellung legt man sich dagegen auf ein Gericht fest.
Außerhalb einer Musterfeststellungsklage, kann man das Klagerisiko bundesweit verteilen. Geklagt wird immer an dem sogenannten Verbraucherstandort, das heißt bei dem Gericht, bei dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat. Diese "Streuung" des "Entscheidungsrisikos" kann von Vorteil sein.
Im Ergebnis muss also wieder jeder für sich entscheiden, welchen rechtlichen Weg - Musterfeststellungsklage oder "Einzelkämpfer" - er gehen möchte. Im Zweifel wird der vorsichtige Verbraucher sich hierzu anwaltlicher Beratung bedienen.