Unliebsame Auslandspost
Verkehrsverstöße in der EU | Behörden dürfen sich gegenseitig Auskünfte erteilen und Informationsschreiben versenden. Droht die Vollstreckung, lohnt es sich zu prüfen, ob Hindernisse nach deutschem Recht greifen.
— Die Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verfolgung von Verkehrsverstößen in der EU musste bis spätestens November 2013 in das nationale Recht der 28 EU-Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Der deutsche Gesetzgeber hat dies im Rahmen des Vierten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 28. August 2013 getan, das am 31. August in Kraft getreten ist (BGBl 2013 I Nr. 52 vom 30.08.2013, S. 3.310).
Rückblick | Bereits am 6. November 2011 ist die Richtlinie 2011/82/EU des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 25. Oktober 2011 zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Austauschs von Informationen über die Straßenverkehrssicherheit gefährdende Verkehrsdelikte (ABl. EU L 288 vom 05.11.2011, S. 1) in Kraft getreten.
Die Richtlinie soll die grenzüberschreitende Verfolgung von Verkehrsverstößen erleichtern, die mit Fahrzeugen begangen wurden, die in einem EU-Mitgliedstaat zugelassen sind. Sie enthält keine neuen Regelungen zur EU-weiten Vollstreckung. Sie bezieht sich nur auf die Verfolgung von bestimmten Verkehrsverstößen. Die in §§ 46 ff. des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) geregelte EU-weite Vollstreckung von nicht bezahlten Geldbußen ist seit dem 28. Oktober 2010 möglich.
Rechtshilfe kann für ein Verfahren in strafrechtlicher Angelegenheit durch Vollstreckung einer im Ausland rechtskräftig verhängten Strafe oder sonstigen Sanktion geleistet werden. Das IRG ist auch auf Ersuchen um Vollstreckung einer Anordnung des Verfalls oder der Einziehung anzuwenden, die ein nicht für strafrechtliche Angelegenheiten zuständiges Gericht im ersuchenden Staat getroffen hat, sofern der Anordnung eine mit Strafe bedrohte Tat zugrunde liegt (§ 48 IRG).
Inhalte | Im Vordergrund stehen:
die Erteilung von Auskünften an Behörden im EU-Ausland zu inländischen Verantwortlichen wegen in der Richtlinie aufgezählter Verkehrsordnungswidrigkeiten, die im EU-Ausland begangen wurden,
und außerdem:
die Versendung eines Informationsschreibens an ausländische Kfz-Hhalter bezüglich möglicher Folgen von Bußgeldverfahren wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten.
Maßgeblich sind folgende Vorschriften im Straßenverkehrsgesetz:
§ 27 StVG (neu) – Informationsschreiben
(1) Hat die Verwaltungsbehörde in einem Bußgeldverfahren den Halter oder Eigentümer eines Kfz (mittels Halterdatenaustausches im Sinne der betreffenden Richtlinie) ermittelt, übersendet sie der ermittelten Person ein Informationsschreiben. In diesem Schreiben werden die Art des Verstoßes, Zeit und Ort seiner Begehung, das ggf. verwendete Überwachungsgerät, die anwendbaren Bußgeldvorschriften sowie die für einen solchen Fall vorgesehene Sanktion angegeben. Das Informationsschreiben ist in der Sprache des Zulassungsdokuments des Kfz oder in einer der Amtssprachen des Mitgliedstaates zu übermitteln, in dem das Kfz zugelassen ist.
(2) Absatz 1 gilt nicht, wenn die ermittelte Person ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hat.
§ 37b StVG (neu) – Übermittlung von Fahrzeug- und Halterdaten nach der Richtlinie 2011/82/EU
(1) Das Kraftfahrt-Bundesamt unterstützt nach Absatz 2 die in Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie 2011/82/EU genannten nationalen Kontaktstellen der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei den Ermittlungen in Bezug auf folgende in den jeweiligen Mitgliedstaaten begangenen, die Straßenverkehrssicherheit gefährdenden Verkehrsdelikte:
1. Geschwindigkeitsübertretungen
2. Nicht-Anlegen des Sicherheitsgurtes
3. Überfahren eines roten Lichtzeichens
4. Trunkenheit im Straßenverkehr
5. Fahren unter Einfluss von berauschenden Mitteln
6. Nicht-Tragen eines Schutzhelmes
7. unbefugte Benutzung eines Fahrstreifens
8. rechtswidrige Benutzung eines Mobiltelefons oder anderer Kommunikationsgeräte beim Fahren
(2) Auf Anfrage teilt das Kraftfahrt-Bundesamt der nationalen Kontaktstelle eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union folgende nach § 33 gespeicherten Daten zu Fahrzeug und Halter mit:
1. amtliches Kennzeichen
2. Fahrzeug-Identifizierungsnummer
3. Land der Zulassung
4. Marke des Fahrzeugs
5. Handelsbezeichnung
6. EU-Fahrzeugklasse
7. Name des Halters
8. Vorname des Halters
9. Anschrift des Halters
10. Geschlecht
11. Geburtsdatum
12. Rechtsperson
13. Geburtsort
wenn dies im Einzelfall für die Erfüllung einer Aufgabe der nationalen Kontaktstelle des anfragenden Mitgliedstaates der Europäischen Union oder der zuständigen Behörde des anfragenden Mitgliedstaates der Europäischen Union erforderlich ist.
Nationales Recht | Art, Inhalt und Form des Informationsschreibens stehen unter dem Vorbehalt des nationalen Rechts des Mitgliedstaates, in dem der Verstoß begangen wurde. Insbesondere muss die Mitteilung konkreter Rechtsfolgen oder Sanktionen vor Abschluss des Verfahrens nicht erfolgen, soweit das nationale Recht des Mitgliedstaates, in dem der Verkehrsverstoß begangen wurde, dies nicht vorsieht.
Auch das deutsche Recht sieht die Versendung einer solchen Mitteilung durch ein Informationsschreiben bislang nicht vor.
Im Rahmen des deutschen Bußgeldverfahrens (bei Verkehrsverstößen, die durch ausländische Kraftfahrer begangen werden) stellt deshalb das an einen ausländischen Verkehrssünder gerichtete Informationsschreiben eine Form der Anhörung des Betroffenen beziehungsweise Vernehmung eines Zeugen dar. Der Empfänger des Schreibens kann sowohl Betroffener als auch Zeuge sein und wird dazu entsprechend belehrt. Das Verkehrsministerium wird im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Justiz ein Muster eines Informationsschreibens im Verkehrsblatt bekannt geben.
Verstoß eines Deutschen in der EU | Im Falle eines durch einen deutschen Kraftfahrer im EU-Ausland begangenen Verkehrsverstoßes dürfen aufgrund der Halterhaftungsproblematik in Deutschland die an die ausländische Behörde übermittelten Daten nur zur Fahrerermittlung verwendet werden.
Deshalb ist bei der Übermittlung der Daten an den Empfängerstaat ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die übermittelten Daten nur verwendet werden dürfen, um den Fahrer des Fahrzeugs zu ermitteln, der den der Anfrage zugrunde liegenden Verstoß begangen haben soll.
Das Verkehrsministerium wird dem Kraftfahrt-Bundesamt als zuständiger nationaler Kontaktstelle eine entsprechende Weisung erteilen und die ausländischen Stellen hierüber informieren.
Die Praxistauglichkeit einer solchen Weisung muss jedoch eher kritisch gesehen werden. Es ist wohl anzunehmen, dass Behörden aus denjenigen Ländern, in denen eine Halterverantwortlichkeit für Verkehrsverstöße besteht (zum Beispiel Frankreich, Italien und die Niederlande), den deutschen Kfz-Halter – wie bisher – als Verantwortlichen ansehen und anhand der vom KBA übermittelten Informationen diesen mit dem Informationsschreiben möglicherweise auch sofort zur Zahlung des Bußgelds auffordern werden.
Vollstreckungshindernisse | Zu beachten ist aber, dass im Falle der Vollstreckung einer dem Halter auferlegten Geldsanktion die Vollstreckungshindernisse nach deutschem Recht greifen können.
So muss das Justizministerium gemäß § 87b IRG die Vollstreckung verweigern, wenn die Vollstreckung unzulässig ist oder Bewilligungshindernisse vorliegen.
Dies ist unter anderem dann der Fall,
wenn der Mindestbetrag von 70 Euro nicht erreicht wird (§ 87b Abs. 3 Nr. 2 IRG),
wenn der Betroffene in einem schriftlichen Verfahren nicht über seine Rechte belehrt wurde (§ 87b Abs. 3 Nr. 3 IRG). Dies ist bereits dann der Fall, wenn das Verfahren im Ausland in einer für den Betroffenen nicht verständlichen Sprache durchgeführt wurde,
wenn ein deutscher Kfz-Halter zuvor im Ausland erfolglos Einspruch mit der Begründung eingelegt hat, nicht selbst der Fahrer gewesen zu sein (weil im betreffenden Land eine Halterhaftung besteht), § 87b Abs. 3 Nr. 9 IRG,
wenn das hier geltende Recht Sanktionen, die der im ausländischen Staat verhängten Sanktion ihrer Art nach entsprechen, nicht vorsieht,
wenn die Vollstreckung nach deutschem Recht verjährt ist oder bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts verjährt wäre.
Datenübermittlung | Bereits nach bisher geltender Rechtslage dürfen Registerbehörden die gespeicherten Fahrzeug- und Halterdaten zur Verfolgung von Verkehrsverstößen – im Rahmen ihres Ermessens – im Wege des automatisierten Abrufs an hierfür zuständige Stellen in anderen Mitgliedstaaten übermitteln (§ 37a Abs. 1, § 37 Abs. 1 lit c und d StVG).
Die Übermittlung der Daten im Sinne der EU-Richtlinie liegt hingegen nicht im Ermessen der Mitgliedstaaten.
Entscheidung über den Verantwortlichen | Im Rahmen der Ausarbeitung des Richtlinienentwurfs wurde seinerzeit auch die generelle Einführung einer Verantwortlichkeit des Halters für Straßenverkehrsverstöße diskutiert. Hierzu ist es nicht gekommen; die Mitgliedstaaten können weiterhin selbst entscheiden, wen sie als Verantwortlichen für einen Verkehrsverstoß ansehen.
Deutschland hat bereits im Zusammenhang mit dem Richtlinienentwurf erklärt, dass dies hierzulande ausschließlich der Fahrer eines Kraftfahrzeugs ist.
| Dr. Michael Ludovisy
Spätes Rot | Geradeausfahrer haftet allein
– Bei der Kollision zwischen einem Geradeausfahrer und einem Linksabbieger auf einer ampelgeregelten Kreuzung mit grünem Linksabbiegerpfeil haftet der Geradeausfahrer allein, wenn sein Einfahren in die Kreuzung bei „spätem Rot“ für den Unfall ursächlich geworden ist und der Linksabbieger keine Sorgfaltspflichtverletzung begangen hat.
Eine Sorgfaltspflichtverletzung des Linksabbiegers kann dann nicht angenommen werden, wenn die Schaltung des grünen Linksabbiegepfeils im Zeitpunkt des Unfalls nicht aufgeklärt werden kann, da ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Linksabbiegers nicht greift.
OLG München, Entscheidung vom 25.04.2013, Az. 10 U 4203/12, VRR 2013, 202
Tatbestandsmerkmale | Fahrerflucht bei Schaden durch Beladung
– Beschädigt ein Verkehrsteilnehmer im Zuge der Beladung seines eigenen Kfz ein in der Nähe stehendes, fremdes Kfz und entfernt sich dann vom Handlungsort, um sich keinen zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen auszusetzen, so verwirklicht er keine Unfallflucht, soweit ihm subjektiv nicht nachzuweisen ist, dass er wusste, dass es sich bei dem Vorfall um einen Unfall im Straßenverkehr handelte. Zwar hat der Autofahrer im entschiedenen Fall objektiv den entsprechenden Tatbestand verwirklicht. Es fehlt jedoch am Tatvorsatz. Der Autofahrer befand sich vielmehr im Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 StGB, denn er irrte im konkreten Fall über das Vorliegen des ihm in der Laiensphäre bekannten Tatbestandsmerkmals „Unfall im Straßenverkehr“.
LG Aachen, Az. 71 NS-607 JS 784/08-146/11, NZV 2013, 305
Arbeitsunfähigkeit | Herausgabe-Ort eines Dienstwagens
– Während einer Arbeitsunfähigkeit ist eine Arbeitnehmerin nicht verpflichtet, einen Dienstwagen im Betrieb abzuliefern. Leistungsort ist hier der Wohnort der Arbeitnehmerin. Die Herausgabe findet grundsätzlich an dem Ort statt, an dem sich die herauszugebende Sache befindet, bzw. am Wohnort des Schuldners, sofern nicht nach der Natur des Schuldverhältnisses etwas anderes gilt.
LAG Berlin-Brandenburg, Az. 10 SA 1809/12, ASR 2013, H. 7
Kaufvertrag | Abweichung von Beschaffenheitsvereinbarung
– Wurde in einem Kaufvertrag über einen Gebrauchtwagen eine Laufleistung von 100.000 Kilometern vereinbart, weist es aber eine weit höhere auf, liegt ein Mangel im Sinne einer Abweichung von der vereinbarten Beschaffenheit i. S. v. § 434 I S.1 BGB vor. Dieser wird von einem vereinbarten Gewährleistungsausschluss nicht erfasst. Denn die Beschaffenheitsvereinbarung und ein Gewährleistungsausschluss stehen aus Sicht des Käufers gleichrangig nebeneinander.
Die Regelung kann daher nicht so verstanden werden, dass Letzterer die Unverbindlichkeit der Beschaffenheitsvereinbarung zur Folge hat. Vielmehr erstreckt sich der Gewährleistungsausschluss nur auf Mängel i. S. v. § 434 I S.2 Nr. 1 und 2 BGB und nicht auf die vereinbarte Beschaffenheit nach § 434 I S. 1 BGB.
OLG München, Az. 7 U 3602/11, ASR 2013, H. 7, S. 3
Fehlende Pflichtversicherung | Fahrzeug wird außer Betrieb gesetzt
– Wird der Kfz-Zulassungsbehörde durch den Versicherer angezeigt, dass für ein Kfz kein Pflichtversicherungsschutz mehr existiert, so ist sie zur unverzüglichen Anordnung dessen Außerbetriebsetzung verpflichtet. Nicht entscheidend ist hierbei, ob die Anzeige unzutreffend ist und tatsächlich Versicherungsschutz vorliegt. Rechtsgrundlage des Außerbetriebsetzungs-Bescheides ist § 25 IV S.1 FZV.
VG München, Az. M 23 S 12/3422,
ADAJUR-Newsletter vom 09.07.2013
Unterlassene Niveauangleichung | Verkehrssicherungspflicht nicht verletzt
– Eine Gemeinde verletzt nicht ihre Verkehrssicherungspflicht, wenn sie den Bordstein an einer Parktasche nicht absenkt und eine vorhandene Natursteinpflasterrinne dort belässt.
Einem Pkw-Fahrer ist beim Einfahren in eine Parktasche zuzumuten, das Park-Distance-Control-System zu aktivieren. Tut er dies nicht und verursacht der Kontakt mit dem Bordstein einen Schaden, so trifft ihn ein weit überwiegendes Mitverschulden, neben dem eine mögliche Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der Gemeinde nicht ins Gewicht fällt.
LG Wiesbaden, Az. 9 O 34/11, NJW-RR 2013, 663
Justizvollzugs-Entschädigungsgesetz | Begrenzung des Verdienstausfalles
– Macht ein Selbstständiger oder Freiberufler nach einer notwendigen Terminwahrnehmung vor Gericht einen Verdienstausfall geltend, ist der zu erstattende Stundensatz gem. § 22 JVEG auf höchstens 17 Euro zu gewähren.
Die durch Terminwahrnehmung entstandenen Auslagen sind gemäß § 91 I S. 2 ZPO grundsätzlich von der Kostenerstattung umfasst und nach den für Zeugen anzuwendenden Vorschriften und somit nach §§ 19 ff. JVEG zu berechnen. Der Verdienstausfall beträgt jedoch höchstens 17 Euro pro Stunde.
LG Ingolstadt, Az. 31 O 2148/11, SVR 2012, 383
Unfallversicherung | Verletzung auf Tankstellengelände kein Wegeunfall
– Ein Wegeunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung liegt nicht vor, wenn sich ein Angestellter auf dem Heimweg nach dem Aufleuchten der Reservelampe zu einer Tankstelle begibt und sich dort sturzbedingt Verletzungen zufügt. Allgemeine Maßnahmen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit eines Pkw sind als Vorbereitungshandlungen unversichert.
LSG Berlin-Brandenburg, Az. L 3 U 268/11, ADAJUR-Newsletter vom 16.07.2013
- Ausgabe 11/2013 Seite 78 (4.0 MB, PDF)