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Erste Ampel-Phase: Gelbe Gefahr bei klimaneutraler Mobilität?

21.03.2022 12:00 Uhr
Erste Ampel-Phase: Gelbe Gefahr bei klimaneutraler Mobilität?
© Foto: Bicicli

Kolumne "Neue Fahr-Lässigkeit" von Prof. Dr. Stephan A. Jansen: Ein kurzer Check des Koalitionsvertrags und seiner Realitäten.

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Erstmals hat die FDP als kleinste Koalitionspartei etwas überraschend das größte Ministerium jenseits des Wirtschafsministeriums für den Klimaschutz übernommen. So sind Verhandlungen. Aber was ist mit den Handlungen?

Bei allen politischen Kompromissen brauchen wir planetare Konkretionen: Stehen nun alle Zeichen der neuen, digitalen, klimaneutralen sowie auch der freiheitlichsten Mobilität, also die Zweirad- wie Fußmobilität auf grün?

Ein provokativer Check Up & lauter Wake Up-Call zu ausgewählten Aspekten.

Live aus dem Limit von Berlin Mitte

Berlin-Mitte ist der Bezirk der Bundespolitik und der mit der geringsten Autobesitzquote Deutschlands. Das liegt nicht am Bundestag und seiner, von der Bundeswehr betriebenen Fahrbereitschaft deutscher KfZ-Hersteller. Es liegt eher an fortwährenden Demonstrationen auch gegen die Klima- und Verkehrspolitik, bei denen man selbst als Fußgehender und Radfahrender gerade noch so durchkommt. Aber darum geht es ja meist doch bei Mobilität – ums Durch- und Ankommen.

"Traffic Cem", wie vielen Sympathisanten wie Kritiker des neuen Bundeslandwirtschaftsministers Cem Özdemir gern nennen, kam an. Nur nicht als Verkehrsminister. Die Verkehrspolitik ist nun nicht grün, die eFuels nun wieder drin, die Pendlerpauschale wieder hoch und das Tempo auf Autobahnen nun doch ohne Limit. Und am Limit ist auch der Koalitionsvertrag nicht, so ambitionslos wie die Kritiken durchgehend lauteten. Mit einer Ausnahme: "Im Koalitionsvertrag erkenne ich nicht das Bemühen, die deutsche Autoindustrie zu schwächen", so Hildegard Müller, Präsidentin Verband der Automobilindustrie, in der FAZ im Dezember 2021.

Die Stärkung des Radverkehrs war dann doch sehr limitiert – 420 Zeichen, das ist ein Twitter-Tweet im Vergleich zur langen Auto-Biografie im Koalitionsvertrag. Und das wurde besonders dann offensichtlich, als das von BICICLI stets gut gewartete Rad von Cem Özdemir ein Meme in den Social Media wurde. Warum? Weil er die ganzen 1,8 Kilometer vom Bundestag zum Bundespräsidialamt bei seiner Ernennung aus Zeitgründen radelte – und auch noch am Stück. Der Verkehrsminister Volker Wissing fuhr mit dem Auto.

Die gelbe Handschrift des Koalitionsvertrags

Der damalige CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer gratulierte für Kritiker vernichtend: "Schön, dass die Ampel meine Arbeit der letzten Jahre fortsetzt." Die dann folgenden Aktivitäten und Interviews von Minister Wissing ließen schnell die neuen Limits erkennen: "Nicht immer nur Druck, Druck, Druck", wie er sich in der FAZ Ende Februar 2022 zitieren ließ. Das ist insofern überraschend, als nach dem deutschen Klimagesetz die Emissionen im Verkehrssektor bis 2030 fast halbiert werden müssen. Was dann kam war die Verbreiterung von Autobahnen A1 und A3 entgegen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis, die Purzelbäume bei eFuels und den Plug-In-Hybriden, die energiepreisbedingte Erhöhung der eigentlich abzuschaffenden Pendlerpauschale, die Abschwächungen der Klimaziele von Neuwagen und und und... Die Handschrift zittert zwischen Industrie-, Arbeitsmarkt-, Energie-, Digital- und Klimapolitik.

Die Vorhaben im Detail (in klimaschützender Reihenfolge ohne Schiff- und Flugverkehr)

Radverkehr: "Wir werden den Nationalen Radverkehrsplan umsetzen und fortschreiben, den Ausbau und die Modernisierung des Radwegenetzes sowie die Förderung kommunaler Radverkehrsinfrastruktur vorantreiben. Zur Stärkung des Radverkehrs werden wir die Mittel bis 2030 absichern und die Kombination von Rad und öffentlichem Verkehr fördern. Den Fußverkehr werden wir strukturell unterstützen und mit einer nationalen Strategie unterlegen", heißt es dazu wörtlich und vollständig zitiert.

Einschätzung: Der zivilgesellschaftlich vor der Wahl erneuerte Nationale Radverkehrsplan wird "fortgeschrieben". Bestechender Weise schreibt das Bundesamt das Bundesamt für Güterverkehr das Fahrradportals fort, das bisher kompetent vom Deutschen Institut für Urbanistik betrieben wurde. Das so neu bezeichnete "Mobilitätsforum Bund" soll unter www.mobilitaetsforum.bund.de seit letztem Herbst eingerichtet werden und der "aktiven Förderung des Radverkehrs und anderer Formen einer aktiven, nachhaltigen, inter- und multimodalen Mobilität" dienen. Die Beschleunigung von Genehmigung und Bau von Radschnellwegen, die Unsicherheit der meisten Fahrradstraßen, der geschwächte Fußverkehr und die zugeparkten Gehsteige, der neue weit unter dem europäischen Standard zurückbleibende Bußgeldkatalog, die infrastrukturelle Ertüchtigung des ländlichen Raums von Dorf zu Dorf und die Definition eines Radwegenetzes sind nur eine Auswahl von überraschenden Auslassungen der Verkehrsträger, die im Umweltverbund des ÖPNV die Klimaziele erreichen sollen.

ÖPNV und neue Mobilitätsangebote: "Wir wollen Länder und Kommunen in die Lage versetzen, Attraktivität und Kapazitäten des ÖPNV zu verbessern. Ziel ist, die Fahrgastzahlen des öffentlichen Verkehrs deutlich zu steigern. [...] Damit alle neuen Busse einschließlich der Infrastrukturen möglichst zeitnah klimaneutral fahren, wird der Bund die bestehende Förderung verlängern und mittelstandsfreundlicher ausgestalten. Mobilitätsforschung werden wir interdisziplinär aufwerten, das Zentrum Zukunft der Mobilität neu aufstellen und erweitern, sowie das Zentrum für Schienenverkehrsforschung stärken."

Einschätzung: Die Elektrifizierung, attraktivere Waggondesigns, datenbasierter Takt sowie multimodale Mobilitätsangebote an Bahnhöfen sind die zentralen investiven Hebel für die post-pandemische Klimaneutralisierung der Mobilität. Eltern, intermodale Fahrradfahrende und Rollator-Nutzende wundern sich noch immer jeden Tag, wie unterirdisch es in deutschen Unterführungen zugeht – wenn man in der Schweiz oder Österreich war. Die Berliner Verkehrsbetriebe versuchen es witzig, dass man endlich wieder die Spargelsaison riecht... Ist aber nicht witzig! Wir brauchen hier Ernsthaftigkeit für wirkliche Investitionen und die Ermöglichung von Rad-Fuß-ÖPNV-Pendlerverkehre.

Verkehrssicherheit im Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung: "Wir werden Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung so anpassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen. [..,] In Umsetzung der Vision Zero werden wir das Verkehrssicherheitsprogramm weiterentwickeln. Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben."

Einschätzung: Die Entscheidungsspielräume der Kommunen bestehen derzeit gerade nicht, wie wir in der breiten Initiative von weit über 60 Städten zum Jahresbeginn für die 30er Zone als Regelgeschwindigkeit forderten. Das beruhigt und beschleunigt alle – nachgewiesener Maßen. Aber der Bund bleibt zuständig und Kinder, Ältere und Frauen wie auch Männer bleiben unruhig.

Automobilstandort Deutschland: "Wir unterstützen die Transformation des Automobilsektors, um die Klimaziele im Verkehrsbereich zu erreichen, Arbeitsplätze sowie Wertschöpfung hierzulande zu erhalten." Auf Bundesebene soll eine Strategieplattform "Transformation Automobilwirtschaft" entstehen, über die sich Mobilitätswirtschaft, Umwelt- und Verkehrsverbände, Sozialpartner, Wissenschaft, Bundestag, Länder und kommunale Spitzenverbände mit den zuständigen Bundesressorts austauschen können. Bis 2030 soll Deutschland zum Leitmarkt für Elektromobilität werden. Zu einem möglichen Verbrenner-Aus heißt es: "Gemäß den Vorschlägen der Europäischen Kommission werden im Verkehrsbereich in Europa 2035 nur noch CO2-neutrale Fahrzeuge zugelassen – entsprechend früher wirkt sich dies in Deutschland aus. Außerhalb des bestehenden Systems der Flottengrenzwerte setzen wir uns dafür ein, dass nachweisbar nur mit E-Fuels betankbare Fahrzeuge neu zugelassen werden können." An anderer Stelle im Vertrag steht: "Schritt für Schritt beenden wir das fossile Zeitalter, auch, indem wir den Kohleausstieg idealerweise auf 2030 vorziehen und die Technologie des Verbrennungsmotors hinter uns lassen."

Einschätzung: Mindestens 15 Millionen E-Autos hierzulande peilt die Ampel-Koalition an – und der Verkehrsminister rechnet und reguliert täglich neu, weil es so gar nicht realistisch erscheint. Die Energie-Wende wird nach der verteidigungs- und energiepolitischen Kriegssituation entscheidender sein als die Fahrzeuge und deren recyclingfähigen Batterien, Ladesäulen und Schnellladepunkte. Dass die Regierung hier auf „die Mobilisierung privater Investitionen“ setzt, ist mehr als nachvollziehbar: Wir sind ja eben nicht im realen Kommunismus, auch wenn wir von dort das sich nun verteuernde Benzin und Gas bezogen haben.

Mobilitätsdatengesetz und der Zugang von Verkehrsdaten: "Wir schaffen ein Mobilitätsdatengesetz und stellen freie Zugänglichkeit von Verkehrsdaten sicher. Zur wettbewerbsneutralen Nutzung von Fahrzeugdaten streben wir ein Treuhänder-Modell an, das Zugriffsbedürfnisse der Nutzer, privater Anbieter und staatlicher Organe sowie die Interessen betroffener Unternehmen und Entwickler angemessen berücksichtigt." Und weiter heißt es: "Für eine nahtlose Mobilität verpflichten wir Verkehrsunternehmen und Mobilitätsanbieter, ihre Echtzeitdaten unter fairen Bedingungen bereitzustellen. Anbieterübergreifende digitale Buchung und Bezahlung wollen wir ermöglichen. Den Datenraum Mobilität entwickeln wir weiter. [...] Intermodale Verknüpfungen werden wir stärken und barrierefreie Mobilitätsstationen fördern."

Einschätzung: Das ist das Bewegendste und Klügste, was in dieser Koalitionsvereinbarung steht, vermutlich weil auch die wenigsten genau verstanden haben, was das eigentlich bedeutet: eine Revolution, und zwar mehrfach mit Blick auf 1. eine Data Governance jenseits von Google Maps, Uber, Amazon oder sonstigen Plattformen, die mit Bewegungsdaten sorgsam umgeht. 2. eine Logik von Mobilitätsstationen statt Mobilitätsmittel-Eigentum, und 3. eine intermodale Logik, die Abstand von dem Glauben nimmt, dass Mobilität nur dann gelingt, man aus einem Carport direkt in eine trockene Tiefgarage fährt, ohne das Verkehrsmittel zu wechseln.  

Wake Up Call: Der Mobilitäts-Standort braucht deutlich mehr Bewegung

  1. Mehr "Selbst-Bewegung" – mit Fokus auf Fuß- und Zweirad-Verkehre.
  2. Mehr Infrastruktur in klarer Trennung von privater Ladeinfrastruktur und öffentlicher Flächengerechtigkeit für die Verkehrssicherheit.
  3. Mehr "Soziale Bewegungen" für eine Teilhabe-Gerechtigkeit – und dies mit Blick auf Geschlechter-, Alters- und Einkommensgerechtigkeit.

Und das alles auf dem Platz, also einem beweglicheren kommunalen Platz, wo die Bundesregierung vielleicht am Limit sein sollte und die Kompetenzen dorthin verteilt, wo sie sind und eingesetzt werden müssen. Und allen anderen wünschen wir gute Fahrt, nicht nur Cem Özdemir, sondern auch den Autofahrenden, die dann wieder besser durch- und ankommen, wenn der ÖPNV, der Rad- und Fußverkehr und eben auch die Mobilitätsdienste besser funktionieren.

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