Der Tag von Monika S. beginnt oft vor dem Sonnenaufgang: Morgens, wenn die Straßen noch leer sind, vor dem großen Berufsverkehr, ist sie mit ihrem kleinen Dienstwagen schon auf dem Weg zum ersten Patienten. Herr G., Ende 80, wartet auf die ihm vertrauten helfenden Hände, denn er braucht diese Hilfe beim Aufstehen, Waschen, Anziehen, dem anschließenden Frühstückmachen und dem Herrichten der Medikamente.
15 Patienten pro Schicht
Frühstücken muss Herr G. dann allein, denn viel Zeit bleibt den Pflegekräften in den meisten Fällen nicht - der nächste Termin steht schon im Plan. Monika S. arbeitet für einen privaten Pflegedienst, wie es sie in ganz Deutschland zigtausendfach gibt. Sie meistert, wie alle ihre Kolleginnen und Kollegen, täglich den Spagat zwischen Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein, empathischer Fürsorge und Hilfsbereitschaft auf der einen sowie Zeitdruck, Parkplatzsuche, Stau und Dokumentationspflichten auf der anderen Seite. Bis zu fünfzehn Patienten pro Schicht besucht sie täglich.
Auf "Pflegemarkt.com" (ein Fachportal, das seit 2008 umfassende Daten, Analysen und Marktinformationen für die Pflegebranche bereitstellt) ist zu lesen, dass in den Jahren zwischen 2018 und 2024 die Anzahl der Pflegedienststandorte um 16 Prozent gestiegen ist. Ende letzten Jahres gab es fast 18.000 ambulante Pflegedienste, die mittlerweile mehr als zwei Millionen Pflegebedürftige versorgen. Mit knapp 75 Prozent sind die Dienste ohne erweiterte Angebote, die sich ausschließlich auf die ambulante medizinische oder pflegerische Versorgung konzentrieren, noch deutlich in der Mehrheit. Allerdings nimmt die Spezialisierung immer weiter zu: Annähernd 16 Prozent bieten schon ein erheblich erweitertes Leistungsspektrum an. "Ich bin kein Pflegeprofi - aber ich kann zuhören, Gesellschaft leisten und beim Einkaufen helfen", sagt hier stellvertretend Alltagshelferin Nina T. "Gerade alleinstehende Senioren sind oft dankbar für eine vertraute Person."
Angebotserweiterung
Einer, der seinen ambulanten Pflegedienst heute schon sehr breit aufgestellt hat, ist Jörn Rukse. Er hat die "Häusliche Pflege Familie Rukse" zusammen mit seiner Frau Sabine 2018 in der niederrheinischen Stadt Goch gegründet.
Rukse bietet neben der Grundpflege (Waschen, Duschen, Baden, Lagern) und der Behandlungspflege (u. a. Verbände anlegen, Spritzen verabreichen, Blutdruck messen, Blutzuckerkontrolle, Wundversorgung, Katheterisierung, Infusionstherapie, Port-Versorgung, Stoma-Behandlung, Blasenspülung und Absaugen der oberen Luftwege durch Mund und Nase) auch spezialisiertes Diabetesmanagement an. Dazu die Alltagsbegleitung (Arztbesuche, Spaziergänge oder kulturelle Aktivitäten sowie Unterstützung bei der Tagesstrukturierung) und die hauswirtschaftliche Versorgung: Hilfe beim Einkaufen sowie die Reinigung der Wohnung, Wäschepflege und die Zubereitung von Mahlzeiten. Einfache Dinge, die der betagten Kundschaft zunehmend schwerfallen, ohne dass diese schon medizinische Pflegefälle wären. Außerdem hat der Pflegedienst Rukse noch einen Fußpflegedienst und Aromapflege, bei der ätherische Öle gezielt eingesetzt werden, um das Wohlbefinden, die Gesundheit und die Lebensqualität von Pflegebedürftigen zu unterstützen, im Portfolio. Zudem ist die Eröffnung eines Wundzentrums geplant, das auf die Behandlung von chronischen und schwer heilenden Wunden spezialisiert ist.
Jörn Rukse betont im Interview, dass "der hauswirtschaftliche Bereich mittlerweile eine große Rolle spielt, weil dort eine hohe Nachfrage besteht und diese auch von Mitarbeitern ohne eine medizinische oder pflegerische Ausbildung durchgeführt werden kann."
Wie viele Mitarbeiter beschäftigen Sie? Welche Berufe und Qualifikationen haben diese?
Jörn Rukse: Wir haben derzeit 40 Beschäftigte, darunter examinierte Altenpfleger, Gesundheits- und Krankenpfleger, Altenpflege-Pfleger, Alltagsbegleiter und Bürokräfte sowie Experten mit der Zusatzqualifikation Palliativ Care und Spezialisten wie einen Wundexperten, einen Praxisanleiter, einen Pflegeexperten für außerklinische Beratung und Intensivpflege sowie eine Pflegedienstleitung und eine Pain Nurse.
Wie viele Fahrzeuge haben Sie in Ihrer Firma?
J. Rukse: Wir haben derzeit zwölf Fahrzeuge und setzen auf Toyota: Aygo X und Yaris.
Wie viele Kunden haben Sie?
J. Rukse: Wir versorgen im Moment ca. 550 Kunden und haben am Tag durchschnittlich 330 bis 350 Einsätze. Unsere Kunden sind im Alter von fünf bis 93 Jahren und leiden meist unter Demenz, COPD, offenen Wunden, Herzinsuffizienz, Diabetes, Arthrose und Krebs mit einem Pflegegrad von 1 bis 5. Unsere Touren fahren wir im Frühdienst von 6:00 bis 12:00 Uhr oder im Spätdienst von 16:00 bis 21:30 Uhr. Dazu haben wir unsere Mutti- und Vatitour, die von 8:00 bis 13:00 Uhr terminiert ist.
Welche Aufgabenbereiche sind für Ihr Team besonders zeitintensiv?
J. Rukse: Die individuelle Körperpflege und die Wundversorgung.
Was sind die häufigsten Herausforderungen im täglichen Pflegebetrieb?
J. Rukse: Die Organisation und Planung der Touren. Bei kurzfristigen Personalausfällen können meine Frau Sabine und ich auch immer einspringen, weil wir beide Pflegefachkräfte sind. So halten wir auch den Kontakt zur Kundschaft.
Gibt es heutzutage zu viel Konkurrenz, also Pflegedienstleister, oder schon zu viele Bedürftige?
J. Rukse: In Goch sehen wir uns nicht als Konkurrenten. Es besteht ein Pflegenetzwerk. Aber es gibt zu viele Pflegebedürftige, fast täglich müssen wir Anfragen ablehnen, denn wir haben zu wenige Pflegekräfte und ein freier Platz bei uns ist schnell wieder weg.
5,7 Millionen Pflegebedürftige
Schon heute gibt es das Problem zu vieler pflegebedürftiger Menschen auf der einen und zu wenig Fachpersonal auf der anderen Seite. Laut Studien der Bertelsmann-Stiftung fehlen schon mehr als 100.000 Pflegekräfte. Die Lage wird sich allerdings mittelfristig verschärfen.
Mit zunehmendem Alter wächst das Risiko für chronische Erkrankungen, Demenz und körperliche Einschränkungen. Laut dem Bundesamt für Statistik waren Ende 2023 knapp 5,7 Millionen Menschen im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) als pflegebedürftig registriert. Prognosen zufolge wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen in den kommenden 25 Jahren auf bis zu sieben Millionen erhöhen.
Bis 2049 werden voraussichtlich mindestens 280.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt. Auch im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung wächst die Nachfrage rasant. Die steigenden Kosten und die Frage der Finanzierung des Systems sind weitere große Hürden in der künftigen Versorgung pflegebedürftiger Mitbürger. Ohne strukturelle Reformen in der Finanzierung, Ausbildung und Digitalisierung wird das System mittelfristig an seine Grenzen stoßen.
Welche Verbesserungen im Pflegesystem halten Sie für dringend notwendig?
J. Rukse: Die Digitalisierung muss dringend vorangetrieben werden. Wir versenden jeden Monat ca. 2.500 Blatt Papier an unsere Abrechnungsfirma. Außerdem wünschen wir uns, dass die Genehmigungen der Krankenkassen schneller über die Bühne gehen.
Welche Strategien haben Sie, um gute Pflegekräfte zu gewinnen und zu halten?
J. Rukse: Wir schalten außergewöhnliche Werbeanzeigen in den sozialen Medien. Bei uns geht alles per Du, und da wir ein Familienunternehmen sind, fühlt man sich auch schnell und lange wohl. Zudem vergüten wir nach Caritas-AVR mit allen erdenklichen Zusatz-Vereinbarungen.
Was ist Ihre Vision für die Pflege in fünf oder zehn Jahren?
J. Rukse: Ich würde mir Pflege-WGs wünschen. Ein Haus, eine Gemeinschaft, wo sich die Bewohner gegenseitig unterstützen können, aber mit einer hauswirtschaftlichen Präsenzkraft unsererseits und den zu festen Zeiten kommenden Pflegekräften. Als Alternative zur Einsamkeit im eigenen Heim, wenn keine Angehörigen mehr da sind, und des oft als Endstation angesehenen Alten- oder Pflegeheims. Da hapert es allerdings an einer geeigneten Immobilie.
Welche Wünsche haben Sie an die Politik?
J. Rukse: Die Ausbildung der Pflegekräfte wieder in Altenpflege und Krankenpflege trennen.
Alten- vs. Krankenpflege
Der Unterschied in der Ausbildung zwischen Altenpflege und Krankenpflege lag früher vor allem in der Spezialisierung der Pflegebereiche - doch seit 2020 hat sich durch die Pflegereform in Deutschland einiges geändert. Der Fokus in der Altenpflege lag davor auf der Pflege und Betreuung älterer Menschen mit den Schwerpunkten Geriatrie, Demenz, Sterbebegleitung, Alltagsbegleitung und sozialer Betreuung.
Die Krankenpflegeausbildung hatte ihren Schwerpunkt in der Pflege akut und chronisch kranker Menschen (Innere Medizin, Chirurgie, Notfallversorgung, medizinisch-technische Aufgaben). Beide Ausbildungen dauerten jeweils drei Jahre. Seit der Reform gibt es eine generalistische Pflegeausbildung zur Pflegefachfrau und zum Pflegefachmann, die aber auch nur drei Jahre dauert. Damit gehen laut Rukse viele Inhalte der früher getrennten Ausbildungen verloren.
Damit ambulante Pflege auch künftig ein tragfähiger Pfeiler im deutschen Gesundheitssystem bleibt, sind gezielte Maßnahmen erforderlich: Mehr Ausbildungsplätze, bessere Vergütungsmodelle, flexible Versorgungsformen wie Pflege-WGs sowie eine durchgängige Digitalisierung - vom Tourenplan bis zur Abrechnung. Nur so lässt sich der Spagat zwischen Menschlichkeit und den Systemanforderungen langfristig meistern.
Trotz aller Hürden bleibt für viele Pflegedienste eines zentral: die Nähe zum Menschen. "Wenn ein Patient mich anlächelt, weil er sich sicher fühlt, dann weiß ich, warum ich das tue", sagt Monika S. und macht sich auf zum nächsten Patienten - und zum nächsten Lächeln.