Reifenphilosophie
Audi hat sich in der Reifenindustrie den Ruf erworben, bei technischen Reifenfreigaben für die Erstausrüstung ab Werk besonders anspruchsvoll zu sein. Ein Interview mit Dipl.-Ing. Ole Eichberg, Leiter Entwicklung Räder und Reifen der Audi AG.
Bei der Erstausrüstung verfolgt man in Ingolstadt eigene Wege und Zielsetzungen. Beispielsweise hat man inzwischen Kennzeichnungen für Audi-konforme und freigegebene Reifen eingeführt: Die Kürzel AO (Audi Original) und AOE (für Audi Original Runflat-Reifen mit Notlaufeigenschaften) sind auf der Seitenwand eingeprägt.
Diese beim Handel verständlicherweise wenig beliebten Markierungen (BMW = fünfzackiger Stern, Mercedes-Benz = MO, Jaguar = J) versprechen dem Kunden allerdings, dass er mit diesem Produkt den für sein Fahrzeug ausgesuchten und in technischen Details speziell abgestimmten Reifen erwirbt. Mitunter gehen die Unterschiede in den Fahreigenschaften zwischen dem Erstausrüstungsreifen und dem gleichnamigen Ersatzmarktprodukt so weit, dass man hier getrost vom Audi-, BMW- oder Mercedes-Reifen sprechen kann.
Wie bei den anderen Fahrzeugherstellern hat die Optimierung des Reifen-Rollwiderstandes auch bei Audi (nach der Fahrsicherheit) den Spitzenplatz in der Prioritätenliste eingenommen. Bei den Notlaufkonzepten hat man sich in Deutschland für das optionale Angebot seitenwandverstärkter Runflat-Reifen entschieden. Allerdings wird auch bei dieser Kategorie noch erheblicher Entwicklungsbedarf angemahnt. So kann es nicht verwundern, wenn Ole Eichberg, der zuständige Abteilungsleiter für Reifenfreigaben bei Audi („Reifen sind ein faszinierendes Bauteil, das ständigen Veränderungen unterliegt“) auf die Frage nach seiner Empfehlung prinzipiell dem Standard-Serienreifen den Vorzug gibt.
Interessant bei Audi und bislang in der Berichterstattung untergegangen ist die Serieneinführung eines indirekt messenden Reifendruck-Kontrollsystems der zweiten Generation. Das System wurde von Audi in Zusammenarbeit mit der schwedischen Nira Dynamics entwickelt und beim aktuellen TT erstmals verbaut. Wie bisher wird bei diesem System der Abrollumfang der Reifen überwacht und bei deutlichen Abweichungen gibt es Alarm (Druckverlust lässt den Reifen einsinken, der Reifenumfang wird kleiner). Hinzu kommt eine Frequenzanalyse der Tangentialschwingungen der Reifen, womit auch geringere Druckverluste als bisher an einzelnen oder allen Rädern erkennbar werden. Die Technik arbeitet mit den ESP-Komponenten. Damit nähert man sich dem Leistungsvermögen von direkt messenden Systemen, ohne den zusätzlichen Aufwand von Radsensoren mit Batterien (meist mit dem Ventil verbunden) und Radhausantennen treiben zu müssen. Zudem erfüllt man das US-Gesetz FMVSS 138 – das eine Reifendruckkontrolle vorschreibt – erstmals mit einem indirekt messenden System. Bislang sind TT, A4, A5 und Q5 damit ausgerüstet. In den kommenden Jahren wird Audi sämtliche Modelle auf das RKA+ umstellen, jetzt im Herbst beim neuen A6. Die bislang angebotenen direkt messenden Systeme von Beru und Conti sollen damit abgelöst werden.
Af: Herr Eichberg, welche Kriterien haben bei Ihrer Reifenfreigabe für Audi-Fahrzeuge Priorität?
Eichberg: Vor allem muss die Fahrsicherheit gewährleistet sein. Damit verbinden wir im Wesentlichen kurze Bremswege auf nasser und trockener Fahrbahn sowie ein problemloses und ausgewogenes Handling. Zudem hat der Reifenrollwiderstand einen hohen Stellenwert, danach der Fahrkomfort. Es folgen etliche weitere Kriterien wie Schnelllauffestigkeit, Laufleistung und Geräusch.
Af: Wie bewerten Sie aus heutiger Sicht den Rollwiderstand?
Eichberg: Die Optimierung des Rollwiderstandes gehört sicher zu unseren vornehmsten Aufgaben als Reifenentwickler, aber dies darf nicht zu- lasten der Sicherheit gehen. Ich erinnere da an den Vergleichstest der Zielkonflikte Nassbremsen und Rollwiderstand von ACE/GTÜ im Frühjahr 2008 mit zum Teil erschreckenden Ergebnissen.
Af: Welche Kompromisse sind Sie bereit, für einen exzellent niedrigen Rollwiderstand einzugehen?
Eichberg: Die Trockenperformance unserer Reifen in der Erstausrüstung ist auf einem so hohen Niveau, dass die Grenzen im Prinzip nur noch auf der Rennstrecke zu erfahren sind. Wir möchten das gegenwärtige Niveau halten, aber die Fortschritte in der Weiterentwicklung sollten vordringlich dem Rollwiderstand zugute kommen. Ein anschauliches Beispiel für Trockenperformance ist die Verkürzung des Bremswegs gegenüber dem Vorgänger um rund zwei Meter aus 100 km/h, die wir durch eine Optimierung von Reifen und Regelstrategie beim neuen A4 und A5 erreicht haben.
Af: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Hersteller bis heute keinen als Spritsparmodell deklarierten Winterreifen anbieten?
Eichberg: Diese Frage müssten Sie eigentlich der Reifenindustrie stellen. Aber eine mögliche Erklärung ist, dass Winterreifen bislang nicht für die Erstausrüstung homologiert werden müssen.
Af: Wie beurteilen Sie die Absicht der EU, Leichtlaufreifen mit optimiertem Rollwiderstand per Prüfung zu definieren und diese Reifenkategorie gar vorzuschreiben?
Eichberg: Die Klasseneinteilung von Leichtlaufreifen würde der Übersichtlichkeit im Ersatzmarkt dienen. Man sollte es aber dem Fahrzeughersteller und seinen Entwicklungsingenieuren überlassen, wie die anspruchsvollen Vorgaben zur CO2-Reduktion erfüllt werden. Vorschriften zu einzelnen Fahrzeugkomponenten schränken die Entwickler ein. Dass der Rollwiderstand vermindert werden muss, ist ohnehin klar.
Af: Ihre Modelle A8 und A6 waren bislang auf Wunsch mit Notlaufreifen Michelin Pax lieferbar. Pax wur-de eingestellt, was nun?
Eichberg: Sämtliche Volumenmodelle werden künftig optional mit komfortorientierten Notlaufreifen in einer Dimension erhältlich sein, die mit der Markierung AOE gekennzeichnet sind. Die neuen A4 und A5 beispielsweise sind mit der Größe 245/45 R 17 lieferbar. Der TT ist mit mehreren Runflat-Dimensionen in einer eher sportlichen Auslegung zu haben. Die anderen Notlaufkonzepte sehen wir uns natürlich genau an, aber wir möchten nicht zu viele Technologien parallel anbieten, das wird für die Kunden zu unübersichtlich.
Af: Welche Runflat-Reifen sind derzeit bei Audi freigegeben?
Eichberg: Das optionale Angebot enthält für den Audi TT an Sommergrößen 225/50 R 17 94W, 245/45 R 17 95Y, 245/40 R 18 93Y und an Wintergrößen 225/50 R 17 94H M+S, 245/40 R 18 87 V XL M+S. Diese Rei-fen entsprechen konstruktiv dem Runflat-Standard, nicht unserer eigenen Klassifizierung AOE (Audi Original Equipment). Für den Audi A3 ist der Sommerreifen 225/45 R17 94 Y XL (AOE) lieferbar, als Wintergröße 205/50 R17 93 H XL M+S (AOE). Bei den Modellen Audi A4 und Audi A5 (Baureihe B8) ist die Sommergröße 245/45 R17 95Y (AOE) und der Winterreifen 225/50 R17 94H M+S (AOE) ab dem vierten Quartal 2008 erhältlich. Für den neuen Audi A6 bieten wir als Sommerbereifung 245/45 R17 99Y XL (AOE) und als Wintergröße 225/50 R17 98 H M +S (AOE) an.
Af: Wo sehen Sie bei seitenwandverstärkten Runflat-Reifen den größten Entwicklungsbedarf?
Eichberg: Es ist vor allem wünschenswert, dass Gewicht und Rollwiderstand bei dieser Reifenkategorie auf das Niveau von Standardreifen reduziert werden. Die physikalischen Voraussetzungen dafür sind allerdings bedauerlicherweise äußerst ungünstig.
Af: Der Wegfall des Reserverades ist aus verschiedenen Gründen richtig und sinnvoll. Welchem Notlauf-Konzept räumen Sie in Zukunft die besten Chancen ein?
Eichberg: Wir müssen global denken, planen und entwickeln. Jeder Markt, jede Region hat ihre spezifischen Anforderungen und Bedürfnisse. Deshalb wird sich auch langfristig kein Konzept, keine Lösung generell und weltweit durchsetzen. Für Mitteleuropa wird vorerst der Standardreifen plus Tirefit überwiegend am Markt vertreten sein. Wenn der Runflat-Reifen die Entwicklungsziele zur Ver-minderung von Gewicht und Rollwiderstand erreicht hat, ist er tatsächlich eine Alternative. In den USA beispielsweise wird es überwiegend beim Minispare oder Faltreifen bleiben.
Af: Was würden Sie einem Audi-Fahrer bei der Reifenauswahl raten, beispielsweise für den TTS und den neuen A4 2.0 TDI?
Eichberg: Eigentlich müsste ich die beiden Kunden zunächst nach ihrem persönlichen Fahrbetrieb und ihren Vorstellungen fragen. Prinzipiell aber würde ich beiden Fahrern zum Standard-Serienreifen raten. Im Moment erhalten sie damit insgesamt das Optimum der Einzelkriterien Ökonomie, Ökologie, Komfort und Dynamik.
K.P. Backfisch
- Ausgabe 12/2008 Seite 68 (233.6 KB, PDF)